Ich erlebe mich zur Zeit oft als sprachlos. Ich neige dazu, eher die Schwächen der Demokratie zu sehen als ihre Stärke. Ich sehe die Kränkung der Natur statt ihre Schönheit. Meine Gebete um Frieden sind müde. Je näher der 7. Oktober rückte, desto sprachloser. Was soll ich meinen jüdischen Freund*innen gerade wünschen? Denen, die in Israel leben und denen hier und in den USA, die immer mehr antisemitische Angriffe erleben? Mal wieder las ich die erste Seite der Bibel. Es gibt wohl keine Worte und Buchstaben, die ich häufiger gelesen und übersetzt habe als Genesis Kapitel 1. (Und ich lese diese Zeilen nicht als Beitrag zur Evolutionstheorie, sondern als Weisheitstext und Weltliteratur.)
Zuerst las ich vom Tohuwabohu. Und fand mich darin wieder. Irrsal und Wirrsal. Verwüstet und leer. Zu viel Chaos, zu viel Nix. Dann las ich das Wort מְרַחֶ֖פֶת. Es kann mit „schweben“ übersetzt werden, „bewegen“, „flattern“ (wie Flügel) oder auch „brüten“ (wie ein Vogel im Nest). Ich fühlte mich in der Schwebe. Suchte Worte. Brütete vor weißem Papier. Mein Geist flatterte. Ich las: Die göttliche Ruach ist in Bewegung. Und ich atmete bewusst aus und ein. Erlebte wieder einmal, dass mich diese Übung verlangsamt. Und das war wohltuend. Tröstlich: Dass die Geistkraft Gottes sich flatternd, schwebend über der Tiefe bewegte – in diesem Moment vor Beginn der Schöpfung. Kurz bevor dann Atem in das Menschenwesen gepustet wird. Wir: Ein Mix aus Staub und göttlichem Atem. Gottes Luftholen, Gottes Ausatmen wird unser Einatmen. Und der Atem von Sonnenblumen und Kastanienbäumen. „Ich atme ein und aus, ich atme Dich“, singt Joe Falk. Etwas so Feines wie unseren Atem wahrzunehmen, verbindet uns mit allen, die atmen, mit allem, was lebt.
Unser Atem ist die beständige Erinnerung daran, dass wir verbunden sind mit G-tt und allem Leben. Auch dann, gerade dann, wenn die Welt uns den Atem nimmt, das Leben uns das Atmen schwer macht. Dann las ich, was der chassidische Rabbi Nachman von Breslau im späten 18. Jahrhundert sagte: „Wenn Du zu G-tt zurückkehren möchtest, Dir diese ewige Verbundenheit vergegenwärtigen willst, dann reicht ein Seufzer.“ Und ich seufzte. Ließ den Atem los, den ich angehalten hatte. Ach, Seufz, mein alter Vater. Ach, Seufzer, meine kranke Freundin. Ach, Seufzer, wird jemals Frieden? Es tat so gut.
Dabei dachte ich: Alles, was gerade ist, Irrsal und Wirrsal, wüst und leer, wird in diesem Moment zu dem, was möglich ist und neu erschaffen werden kann. Nochmal Rabbi Nachman: „Jedes Ausatmen ist der Tod des Moments, der vorbei ist. Ist die Geburt des neuen Moments.“ Wie Gottes Ruach sich schwebend bewegte angesichts von Tohuwabohu, so geht auch unser Atem. Und jeder Seufzer ist ein Gebet, das uns belebt.
Der Herbst ist voll und voll schön. Es gibt viele Konzertlesungen mit 2Flügel. Lesungen, Schreibworkshops, Gottesdienste. Ich freue mich über Live-Begegnungen und bedanke mich für alle Verbundenheit, im großen Netz, etwa bei Instagram. Danke für alle Grüße, Nachrichten, Mails, Kommentare, Feedback und Fragen. Ich will mich immer wieder erinnern, mein Tohuvabohu mit einem tiefen Seufzer zu verbinden und grüße Sie und Euch ganz herzlich. Namaste!