„Gib mit die Gabe der Tränen, G-tt.“ Das ist zurzeit mein Gebet, diese eine Zeile aus einem Gedicht von Dorothee Sölle. (aus „fliegen lernen“, Fietkau Verlag, Berlin 1979) Unsere Welt trauert. Gleichzeitig geht das Leben weiter. Wir stehen auf. Kümmern uns, erledigen Aufgaben, treffen Entscheidungen, erfüllen Pflichten. Nehmen wir uns genügend Zeit, um zu trauern? Ich habe in den letzten Wochen mehrere Beerdigungen erlebt – Eltern von Freundinnen und Freunden sind verstorben. Und da sind die Nachrichten. Die Wahlergebnisse, der Rechtsruck. Die Kriege, Horror und Terror. Ob wir selber unmittelbar betroffen sind von Abschied und Vermissen oder ob die Nachrichten uns aus der Ferne erreichen – ich glaube, es ist bedeutend, dass wir uns Zeit nehmen, zu weinen. Innezuhalten. Das Handy wegzulegen. Keine Nachrichten zu hören. Zu beten: „Gib mir die Gabe der Tränen“.
Die Bibel und ihre Erzählgemeinschaft kennt die Klagefrauen. Ich habe dabei Personen vor Augen, die für andere weinen. Ihnen beim Weinen und Trauern helfen. Ich stelle mir vor, da sind heilige Helfer*nnen, SeelenSorgerinnen, die unsere Tränen auslösen. Ja, lösen. Weil Weinen erlösend, wohltuend, reinigend ist. Ich denke an Beerdigungen in Südafrika: Das Klagen wurde feierlich initiiert. Alle durften weinen, konnten weinen. Die Tränen flossen ungehemmt. Ich denke in diesen Tagen oft daran, wie ich an der Klagemauer in Jerusalem stand und betete. Und jedes Mal merkte: Alle Gefühle sind hier willkommen. Auch alle miesen Gefühle wie Verzweiflung, Scham, Sehnsucht, Hilflosigkeit, Schmerz sind hier willkommen. Der Ort half mir, zu trauern.
So einen Ort brauche ich jetzt. Klein, aber sicher. Heilig für mich. Damit ich mal loslasse. Kraft und Verbundenheit aufspüre. Meine Liebe nicht verliere, mein Vertrauen, meine Hoffnung. Um neue Worte zu finden.
Dass Sie, Du, wir einen Ort zum Trauern finden, wünsche ich uns. Einen Zeitpunkt im Laufe des Tages. Einen Moment am frühen Morgen zum Beispiel. Oder ganz am Ende des Tages, um alles loszulassen. Eine Stelle, da, wo wir wohnen. Vielleicht ist das ein Grab. Oder ein Fenster. Ein Sessel. Ein Zimmer, das Du eine Weile lang für Dich hast. Schaff Deiner Trauer Raum. Mach Pause. Nimm Dir fünf Minuten – manchmal ist ja nicht mehr Zeit da. Genieß die Stille. Oder hör Musik. Sie muss nicht immer aufbauend, ablenkenden, trotzkräftig sein; sie darf auch mal so richtig traurig sein, Klagemusik. Zünde eine Kerze an. Lass die Tränen laufen. Und sei Dir sicher: Du weinst nicht alleine. Wieder bete ich mit den Worten der Schwester: „Gib mir die Gabe der Tränen“. Und mit viel älteren Worten: „Sammle meine Tränen in deine Schale“. (Psalm 56,9) Die Idee, dass sie nicht verloren sind, die Tränen, diese kostbaren Zeichen von Liebe, Vermissen und Verbundenheit – tröstet mich.
Es immer schön, wenn wir uns live sehen, unterwegs, bei 2Flügel-Konzerten, bei einer Lesung, beim Frauentag, in einem Gottesdienst. Danke für alle Verbundenheit, im großen Netz, am 27. November wieder mal bei YouTube oder immer gerne bei Instagram. Danke für alle Grüße, Nachrichten, Mails, Kommentare, Feedback und Fragen. Im Herbst, der alle Farben in sich hat, grüße ich mit goldenen Segenswünschen. Namaste!